Aktuelle Hinweise


Gastvortrag am 18.06.2025, 18 Uhr c.t., PH 20

Dr. Sebastian Schmidt (UZH Zürich):

Tu ich Dir Unrecht, wenn ich schlecht von Dir denke? Unmoralische Meinungen und radikal soziale Erkenntnistheorie


Abstract
Stellen Sie sich vor, Sie lernen einen neuen Kollegen oder Kommilitonen kennen, der Ihnen unsympathisch ist. Nach einigen Monaten stellt sich jedoch heraus, dass er eigentlich sehr nett ist. Sie könnten nun Gewissensbisse haben, weil Sie Schlechtes über ihn gedacht haben. Ja vielleicht wollen Sie ihm dies sogar gestehen und ihn um Verzeihung bitten. Haben Sie dem Kollegen mit Ihrer Meinung Unrecht getan? Die Debatte zu doxastischem Unrecht fragt, ob wir anderen allein dadurch Unrecht tun können, dass wir eine bestimmte Meinung über sie haben. Befürworter von doxastischem Unrecht behaupten hier, dass nicht nur unsere Handlungen, sondern auch unsere Meinungen unmoralisch sein können. Dabei geht es oft um Meinungen mit rassistischen oder sexistischen Inhalten, mit denen wir andere herabwürdigen: Der Kellner, der aufgrund der Hautfarbe des Kunden schon erwartet, dass er weniger Trinkgeld vom Kunden erhalten wird, oder der CEO, der bei Bewerbungen von Frauen gleich daran denkt, ob sie wohl Schwangerschaftsurlaub beantragen werden. Sind die Meinungen des Kellners und des CEOs moralisch problematisch? Was aber, wenn sie auf Statistiken basieren? Sind sie dann nicht zumindest epistemisch vernünftig? Wie aber kann eine vernünftige Meinung unmoralisch sein? Ich argumentiere im Vortrag, dass wir die Moral nicht auf unsere Meinungen ausweiten sollten. Stattdessen sollten wir akzeptieren, dass wir mit unseren Meinungen ein epistemisches Unrecht begehen können – nämlich dann und nur dann, wenn die Meinungen unvernünftig sind. Wir tadeln einander für Meinungen, die nicht gut durch Belege gestützt sind, wir erwarten voneinander, dass wir diese Fehler eingestehen und für sie geradestehen. Diese Einsicht eröffnet das Feld für eine radikal soziale Erkenntnistheorie, die unsere zwischenmenschlichen Beziehungen als die Grundlage epistemischer Normativität anerkennt. Wir sollten nicht unsere Meinungen moralisieren, sondern stattdessen die Erkenntnistheorie sozialisieren.